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Laika Verlag

Filmclub Moderne Zeiten

Politische Theorie + Philosophie

Dienstag, 26. Oktober 2010





„Sobald man einen Despoten auftauchen sieht, so kann man sicher sein, bald einem Rechtsgelehrten zu begegnen, der voller Gelehrsamkeit beweisen wird, dass die Gewalt legitim ist und dass die Besiegten schuldig sind“.
Alexis de Tocqueville

Sonntag, 10. Januar 2010


Der Aufstieg der Nazis war getragen von den Schichten und Teilen des Volkes, die in der einen oder anderen Weise antiquiert waren, weil sie chronisch hinter den gesellschaftlich notwendigen Durchschnittsgrad der Arbeitsproduktivität zurückgefallen waren, namentlich die kleinen Bauernwirtschaften und unabhängigen Handwerksbetriebe und die sonstige vielfältige Masse von Kleingewerbetreibenden, Kleinunternehmern, Kaufleuten und Krämern. Sie waren Kleinkapitalisten, denen die Inflation ihre Guthaben, aber auch ihre Schulden annulliert hatte. Dadurch war ihnen die Liquidierung gestundet worden, aber seitdem waren sie infolge ihrer Konkurrenzunfähigkeit in eine Neuverschuldung geraten, die sie jetzt zu vernichten drohte. Der Vorgang wird meist als tendenzielle Proletarisierung der Mittelschichten umschrieben.Was aber der Proletarisierung noch vorangeht, ist der Widerstand gegen sie, die Angst vor ihr und die Emotionen, welche die Bedrohung erzeugt und denen die emotional verwüstete Geistesart von Hitler selbst paradigmatisch verwandt ist.
  
Alfred Sohn-Rethel
"Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen Faschismus"

  


Diejenigen, die nicht mitmachten, von der Mehrheit als verantwortungslos bezeichnet, waren die einzigen, die aus eigener Kraft urteilen konnten, und dazu waren sie nicht in der Lage, weil sie ein besseres Wertsystem hatten oder weil die alten Maßstäbe von richtig und falsch noch fest in ihrem Geist oder Gewissen verwurzelt waren, sondern, so vermute ich, weil ihr Gewissen sozusagen nicht automatisch funktionierte - als hätten wir einen Fundus von erlernten oder angeborenen Regeln, die wir dann jeweils auf den Einzelfall anwenden .... Ihr Kriterium war meiner Meinung nach ein anderes; sie fragten sich, inwieweit sie noch im Frieden mit sich selbst leben konnten, nachdem sie bestimmte Taten begangen haben würden .... Die Voraussetzung für diese Form des Urteilens ist keine hochentwickelte Intelligenz oder moralphilosophische Akrobatik, sondern bloß die Gewohnheit, bewusst mit sich selbst zusammenzuleben, das heißt, sich auf den schweigenden Dialog zwischen mir und mir selbst einzulassen, den wir seit Sokrates und Platon gewöhnlich Denken nennen .... Der totale moralische Zusammenbruch der ehrenwerten Gesellschaft während des Hitler-Regimes kann uns lehren, dass diejenigen, die unter solchen Umständen verlässlich sind, nicht denen entsprechen, die Werte anbeten und an moralischen Normen und Maßstäben festhalten. ... Viel zuverlässiger werden die Zweifler und Skeptiker sein, und zwar nicht, weil der Skeptizismus gut oder der Zweifel heilsam ist, sondern weil [solche Menschen] daran gewöhnt sind [Dinge zu untersuchen und sich selbst ein Urteil zu bilden]. Am besten von allen werden sich die verhalten, die wissen, dass wir - gleichgültig, was sonst noch passiert - zeit unseres Lebens dazu verdammt sind, mit uns selbst zusammenzuleben.


   
aus "Macht und Gewalt" von Hannah Arendt